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10Jun

Einladung zu einer ressortübergreifenden Diskussion über das Thema „Kultur und Nachhaltigkeit“ – vorgelegt von der „AG Kultur und Nachhaltigkeit“, Bündnis 90 / Die Grünen

Nachhaltigkeit – von Beginn an zentrales Motiv Grüner Politik – behandelt die großen Fragen des Lebens: von Mensch und Gesellschaft, von Natur und Ökonomie, von Gerechtigkeit und Gutem Leben, von der Zukunft dieses Planeten. Der Begriff Nachhaltigkeit, wie er gegenwärtig in der breiten Öffentlichkeit verwendet wird, läuft Gefahr, zu einer beliebigen und inhaltsleeren Floskel zu verkommen. Eine „Große Transformation“ der Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie gleichzeitig von einem kulturellen Wandel getragen wird – also von einer Veränderung unserer Haltung zur Welt und den Werten, den Normen und den Bildern, die damit einhergehen. Eng verwoben mit der Ökologie, der Ökonomie und dem Sozialen ist Kultur die „Dimension“ der Nachhaltigkeit, die alle drei anderen Bereiche klammert. Wir brauchen daher neue kulturprägende interdisziplinären Ansätze.

Die AG Kultur und Nachhaltigkeit will mit diesem Papier den Anstoß zu einem ressortübergreifenden Diskurs geben und im Austausch mit anderen BAGen die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit ins Gespräch bringen. Der Wunsch nach diesem übergreifenden parteipolitischen Dialog steht im Zusammenhang mit dem in unserem Wahlprogramm geforderten „Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit“. Er bezieht sich auf eine Vielzahl aktueller Kunst- und Kulturprojekte[1], auf aktuelle Nachhaltigkeitsdiskurse z.B. von Harald Welzer und Niko Paech, auf wichtige Zukunftsprojekte (wie die Energiewende oder die Suche nach neuen „Wohlstandsindikatoren“) und auf viele Initiativen vor Ort, die – oft gemeinsam mit KünstlerInnen, mit politischer Gestaltungsmacht und mit dem Wissen um ihre kreativen Potentiale – die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft weiter voranbringen.

 

Unser Selbstverständnis

Um die anstehende Transformation unserer Lebenswirklichkeit zu bewältigen, brauchen wir alle Teile der Gesellschaft. Neue Impulse sind nötig, um noch ungewohnte Perspektiven zuzulassen, Modelle der Zukunftsfähigkeit zu entwickeln und ein breites Verständnis für lebendige und kreative Prozesse zu schaffen. Kunst und Kultur sind treibende Kräfte dieser Entwicklung. Wir wollen diese Potentiale nutzen und mit den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in Dialog treten. Wir wollen neue Impulse für Veränderungsprozesse setzen.

Wir sind überzeugt, dass wir uns als Menschen und Gesellschaften in einer kulturellen Evolution weiter entwickeln und selbst gestaltender Teil dieses Prozesses sind. Der notwendige Wandel unserer Lebens- und Wirtschaftsweisen wird nur dann zu bewältigen sein, wenn er kulturell begleitet und getragen wird.

Heute so zu leben, dass auch unsere Enkel noch eine lebendige Welt vorfinden, erfordert Einsicht, Zusammenwirken und die Mitarbeit jedes Einzelnen an den Geschicken dieser Welt. Das Konzept der Nachhaltigkeit versteht unsere Erde weniger als endlich, sondern vielmehr als lebendig. Dies beinhaltet auch, dass wir Menschen und Natur nicht nur als Ressourcen ansehen, sondern als Lebewesen und Lebensräume mit individuellen Bedürfnissen und Potentialen.

 

Unsere Themen – oder: Was wir wollen

Wir wollen einen Zugewinn an „Gutem Leben“. Wie wir mittlerweile wissen, führt in Industriegesellschaften ein Mehr an Konsum nicht zu einem Mehr an Lebensqualität. Wir brauchen eine breite Diskussion über die Indikatoren von dem, was wir „Gutes Leben“ nennen. Welche Rolle spielt das Gemeinwohl, wie sieht die Beteiligung der Zivilgesellschaft aus, wie gestaltet sich eine Gesellschaft jenseits von Wachstum und welche Bedeutung kommt der Kultur zu? Da wir Kulturen im Sinne von Lebensweisen und kultureller Selbstverwirklichung verstehen, fällt ihnen in diesem Transformationsprozess eine zentrale Rolle zu. Wir wollen eine ressortübergreifende Diskussion anregen, die unsere Partei, ihre Mitglieder und die Gesellschaft anschlussfähig macht an die weltweite Debatte zum „Buen Vivir“.

Wir wollen die Diskussion um die Kriterien einer neuen Definition von Wohlstand vorantreiben und die kulturelle Dimension stärker in den Blick nehmen. Die Rolle der politischen Botschaften in diesem Zusammenhang darf nicht unterschätzt werden – es gilt, sie bewusst zu gestalten. Die das Weltbild prägende Wirkung von Werbeslogans[2] – hunderttausendfach im öffentlichen Raum publiziert und allabendlich ins heimische Wohnzimmer projiziert – klingt banal, ist jedoch unbestritten. Von der Politik entwickelte und genutzte Begriffe wie „Umweltprämie“ (später „Abwrackprämie“ genannt), die vermeintliche „Alternativlosigkeit“ oder auch ein Begriff wie „Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz“ machen darüber hinaus die kulturelle Dimension des politischen Sprachgebrauchs deutlich. Auch hier wollen wir Bewusstwerdungs- und Veränderungs-prozesse auslösen.

Darüber hinaus müssen ökologisch gebotene Veränderungen, wie beispielsweise die Energiewende, neben der Beantwortung der technischen Fragestellungen auch von einem kulturellen Wandel begleitet sein. Dieser Wandel kann sich z.B. in dem bereits jetzt erkennbaren Potential kleinerer Einheiten äußern, in einer dezentralen statt zuvor zentralistischen Organisation, in individuellen Lösungen vor Ort und neuen Formen der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Die Energiewende muss auch als kulturelle Wende begriffen und als Chance für eine Entwicklung hin zu einer Nachhaltigkeitskultur in vielen anderen Bereichen genutzt werden. Hier kann Politik mit ihren Botschaften helfen, die Energien zum Wandel bei den Menschen zu wecken.

Es gibt bereits heute eine Vielzahl an Initiativen und Bewegungen, die an einem sich verändernden Wertesystem arbeiten und dieses innerhalb individueller Handlungsspielräume mitgestalten. Politik muss die damit einhergehenden Erwartungen erkennen, aufgreifen, sichtbar machen und ggf. bestärken, um den bereits vorhandenen positiven „Resonanzraum“ in der Gesellschaft zu erweitern und mehrheitsfähig zu machen. Wir müssen an den bestehenden Konzepten, wie beispielsweise dem „Green New Deal“, weiterarbeiten und auch in diesem Bereich den kulturellen Wandel deutlich machen. Es geht darum, die Bereiche Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Soziales ins gemeinsame Gespräch und zu gemeinsamem Handeln zu bringen.

Die Entwicklung und die Umsetzung Globaler Nachhaltigkeitsziele (SDGs) verbunden mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen muss ein zentrales Anliegen auch der heranwachsenden Generationen sein. Hierfür sind Weichenstellungen nötig – auch und besonders in den Bereichen Bildung und Ausbildung.

 

Der dreifache Beitrag von Kunst und Kultur

1. Anregungen und Impulse
Kunst und Kultur schaffen vielfältige Bilder, Entwürfe und neue Narrative – von Menschen, von Welt, vom Miteinander. Sie gestalten Neues und bewahren bereits erworbenes Wissen, Fertigkeiten, Erzählungen und Denkweisen. Viele KünstlerInnen, GestalterInnen, und WissenschaftlerInnen setzen sich gegenwärtig intensiv mit Zukunftsfragen auseinander. Sie schaffen verschiedenartigste Kunstwerke, Modelle und Erfindungen, die soziale, ökologische und wirtschaftliche Themen aufgreifen und Ideen formulieren, die in diese Bereiche zurückwirken und wichtige Anregungen geben. Die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst darf jedoch nicht in eine „gesellschaftliche Inpflichtnahme“ umgedeutet werden. Wirkmächtige Basis für die Schaffung kultureller Werte ist die freie künstlerische Tätigkeit und nur und gerade in dieser Freiheit erfüllt sich ihre gesellschaftliche Aufgabe.

2. Reflexion
Kunst und Kultur können als Reflexionsfläche fungieren. Sie visualisieren gesellschaftliche, politische oder auch kommerzielle Botschaften, entschlüsseln dahinterliegenden Strategien und Aussagen und bringen die gewonnenen Erkenntnisse in das große gesellschaftliche Gespräch, den politischen Diskurs ein. Welche Bilder werden durch politische Debatten evoziert? Welche „kulturellen Folgen“ ziehen wirtschaftliche, planerische, sozialpolitische Entscheidungen nach sich?

3. Medien
Kulturschaffende, Initiativen, KünstlerInnen, Kommunikationsdesigner und alle Interessierten können aktiv mit daran arbeiten, die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit zu veralltäglichen. Viele tun dies bereits und transportieren ihre Botschaften mit Hilfe der unterschiedlichsten Medien (Musik, Film, Internetforen etc.). Sie bestimmen die Schwerpunkte – formen Lebensgefühle und gestalten Gesellschaft.

 

Die Argumente

Es gibt bereits eine breite gesellschaftliche Debatte sowie eine Vielzahl von Akteuren und Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die sich auf den Weg in eine nachhaltigere Zukunft gemacht haben[3]. Sie alle erwarten, dass die Politik die dringlichen Zukunftsfragen aufgreift und „zu ihrer Sache macht“. Sie erwarten, dass das zivilgesellschaftliche Engagement gestärkt wird, dass neue Formen der Partizipation erprobt werden und dass man die aufgeworfenen Fragen in der Breite der Gesellschaft in einer neuen Kultur des Miteinanders zu beantworten sucht.

Wir Grünen sollten im Dialog mit solchen Nachhaltigkeitsinitiativen das Thema ganz zu unserer Sache machen. Ziel einer grünen Nachhaltig-keitsstrategie muss es sein, die ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Dimensionen menschlichen Handelns deutlich zu machen und eine Transformation weg vom Wachstumszwang der vergangenen Jahrzehnte hin zu mehr Freiheit und „Gutem Leben“ zu fördern. Ein solch vielschichtiger Anspruch ist eine in erster Linie gestalterische und kulturelle Herausforderung.

Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ hat die Frage nach den Indikatoren von Wachstum und Wohlstand nicht befriedigend beantworten können. Daher ist eine Weiterarbeit an diesen Fragen dringend geboten, so wie das auch der „Rat für nachhaltige Entwicklung“ fordert. Der Bedarf an Veränderungsprozessen – auch gegen viele Widerstände ­– ist enorm. Wir sehen in dieser Herausforderung aber auch eine Chance, dass neue Kräfte motiviert werden und eine Lust an Veränderung entsteht, die die „Große Transformation“ beflügelt.

 

Eva Leipprand, Thore Debor, Christine Fuchs, Nicole Hohmann, Michael Maxein

Die „AG Kultur und Nachhaltigkeit“ ist eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe von  Bündnis 90 / Die Grünen, die auf dem AG-Sprecher-Innentreffen am 19.02.2010 in Berlin gegründet wurde. Die UnterzeichnerInnen haben als Schreibgruppe der AG das vorliegende Papier entworfen.

 

Stand 10.06.2013

Papier_AG Kultur und Nachhaltigkeit_10.06.2013


[1] u.a. die Ausstellungen „zur nachahmung empfohlen!“ von Adrienne Goehler, „ÜBER LEBENSKUNST“ der Bundeskulturstiftung oder „Reduce/Reuse/Recycle“ Muck Petzet; weitere Beispiele und Informationen finden sich im Anhang.

[2] Beispielsweise die oft kritisierte „Geiz ist geil“-Kampagne von Saturn, aktuelle Slogans wie „Unterm Strich zähl‘ ich“ der Postbank oder die „Mein Geld. Meine Freiheit.“-Werbeserie von Cortal Consors.

[3] z.B. die „Transition Town“-Bewegung, das „Netzwerk Wachstumswende“, Nachbarschaftsinitiativen oder „SlowFood“

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Kommentare

  1. Anna Deparnay-Grunenberg4. November 2013

    Hallo Liebes Team „Kultur und Nachhaltigkeit“,
    Danke für die Einladung in diesem Gedankengut uns Grüne weiterzuentwickeln! Als Grüne Stadträtin aus Stuttgart sehe ich auch dass wir die „Kultur“ vor ORT, unsere „Kultur“ und die Große gesellschaftliche Transformation (oder der „Große Wandel“, wie ihn die tiefenökologin Joanna Macy nennt) zusammen denken müssen. Ich hätte Interesse in eurem Verteiler aufgenommen zu werden! Danke und see you!
    Anna

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