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01Mai

Eva Leipprand: Anregungen zur Diskussion über eine „GRÜNE KULTURPOLITIK“

Einleitung:

Kultur und Kulturpolitik

„Kultur“ wird in diesem Papier in zweierlei Bedeutung verwendet. Im weiteren Sinne ist Kultur zu verstehen als die Gesamtheit von Religion, Wissenschaft, Kunst, Moral, Gesetze, Gewohnheiten und Gebräuchen, die der Mensch als Teil einer Gesellschaft erlernt und auch an die nächsten Generationen weitergibt. Die Kultur bestimmt die Art und Weise, wie der Mensch die chaotisch erscheinende Welt wahrnimmt und für sich ordnet. Kultur ist ein Zeichensystem, das den Dingen Bedeutung in einem grö-ßeren Ganzen verleiht. Mittels Kultur kommuniziert eine Gesellschaft und verständig sich über sich selbst, in einem laufenden Prozess. Kultur ist ein Synonym für die Veränderbarkeit der Welt.
Kultur im engeren Sinne (die Künste) liefert die Bilder, Erzählungen, Musik, auch De-sign und Architektur, mittels derer die kulturellen Codierungen geschaffen, erhalten oder verändert werden können. Hier entstehen und vergehen die Symbole und Wert-systeme, die Normen, die unsere Gesellschaft bestimmen.

Kulturpolitik macht nicht die Kultur. Das ist Sache der Kulturschaffenden selbst, d.h. von Kunst und Kultur im engeren Sinne. Die Kulturpolitik setzt die Rahmenbedingun-gen und erfüllt durch ihr Handeln im politischen Feld eine Scharnierfunktion zwischen Kunst und Kultur und der Gesellschaft und ihren Vorstellungen.
Der Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ stellt fest: Kul-turpolitik ist auch Gesellschaftspolitik. „Sie wirkt durch Kunst und Kultur beeinflus-send und prägend auf die Grundorientierungen des gesellschaftlichen Lebens ein.“
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird im Sinne von sustainability verwendet.

1. Die kulturpolitischen Positionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute

Parteiprogramme im Vergleich

Es ist einer Initiative von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu verdanken, dass im Jahr 2003 eine Enquetekommission des Bundestags „Kultur in Deutschland“ eingesetzt wurde. Der Abschlussbericht 2008 trägt die Unterschriften der fünf im Bundestag ver-tretenen Parteien. Die meisten der fast 500 Handlungsempfehlungen wurden ein-stimmig beschlossen.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass beim Vergleich der Bundestagswahlpro-gramme 2009 der fünf Parteien im Bereich Kultur das Gemeinsame eher ins Auge fällt als das Trennende. Übereinstimmend wird die Bedeutung der Kultur für die ge-sellschaftliche Entwicklung hervorgehoben, dazu die Förderung der Kulturwirtschaft, der kulturellen Bildung, der kulturellen Teilhabe, der Erinnerungskultur. Allerdings werden die Akzente unterschiedlich gesetzt.
Die CDU hält die Entfaltung der Kreativität für notwendig, „um Wohlstand zu sichern“, ist also eher am Erhalt des Bestehenden interessiert. Die SPD nimmt für sich einen „offenen Kulturbegriff“ in Anspruch und braucht die „Kultur der Demokratie“ für den Zusammenhalt und die Zukunftsaufgaben der Gesellschaft. Die FDP will „Kultur von allen“ und „Anreize zu stärkerem privaten Engagement schaffen“. Die Linke dagegen will „die Privatisierung der Kultur stoppen“ und findet in der Kultur „Fragen nach der Utopiefähigkeit einer Gesellschaft“.
Die Positionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Kapitel „Kultur“ im Grünen Bundestagswahlprogramm ergibt folgendes Bild:
Stärker als die anderen Parteien betont BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Freiheit von Kunst und Kultur, die „vor staatlicher Bevormundung und vor ökonomischer Verein-nahmung geschützt werden“ müsse. Hier kommt der traditionell kritische Kulturbegriff der Grünen zum Ausdruck, der den Blickwinkel der Kreativen einnimmt, nicht den der Verwerter. Das Politische in der Kultur wird in der experimentellen Freiheit gesehen, die den Raum der Möglichkeiten für die Gesellschaft eröffnet. Kreativität soll Denk-blockaden lösen und frei machen für neue Wege in die Zukunft. Deutlicher als ande-re treten die Grünen auch als urbane Partei hervor in der Sorge um die Stärkung der Kultur in den Städten. Kreative Stadtpolitik verfolgt dabei nicht rein wirtschaftliche Zielsetzungen, sondern geht einher mit Vielfalt und Toleranz und bezieht die Bewoh-nerschaft und die Kreativen in ihre Strategien mit ein.
Konsequenter als die anderen Parteien möchte Grüne Kulturpolitik den einzelnen Menschen wie auch die Gesellschaft als Ganzes in die Lage versetzen, die Zukunft aktiv und kreativ zu gestalten – im eigenen Land, in Europa und weltweit. So dient die Bewahrung des kulturellen Erbes nicht nur der Vergewisserung der eigenen Identität, sondern auch als Erfahrungsschatz für die Zukunft. Die Gedenkstätten der Nazi-Verbrechen sind im Erinnern zugleich Lernorte zivilgesellschaftlicher Initiativen. Die kulturelle Bildung zieht nicht nur das Publikum von morgen heran, sondern hilft jun-gen Menschen, indem sie ihre Kreativität zur Entfaltung bringt, zu selbstbestimmten und gestaltungsfähigen Persönlichkeiten heranzuwachsen. Zugang zu kulturellen Angeboten für alle bedeutet nicht nur Teilhabegerechtigkeit, sondern auch Übernah-me von Verantwortung.
Die Grüne Kulturpolitik steht auf dem Boden der Unesco-Erklärung zur Kulturellen Vielfalt, so auch der Thesen: Kultur ist weit mehr als ein Wirtschaftsgut, und: Kulturel-le Vielfalt ist eine Quelle kreativer Erneuerung und eine Ressource für die Zukunft. Entsprechend geht es im Bereich Interkultur nicht nur um das friedliche Miteinander unterschiedlicher Lebensstile, sondern auch darum, Zugang zu anderen Welten zu eröffnen und Verständnis für das Andere, das Unbekannte zu wecken. Auswärtige Kulturpolitik wird als Friedenspolitik verstanden. Sie dient nicht in erster Linie dem Zweck, ein „Bild von Deutschland“ (CDU) zu zeigen, sondern verschränkt innere und auswärtige Kulturpolitik als Schlüssel für ein zusammenwachsendes Europa und den „Dialog der Kulturen“ weltweit. Ohne einer Instrumentalisierung der Kunst das Wort zu reden, wird der Wechsel zu einer ökologisch verantwortlichen Lebensweise auch als eine kulturpolitische Aufgabe begriffen.
In der Medienpolitik geht es den Grünen um die Stärkung der Bürgermedien (bottom up). Meinungsvielfalt und Unabhängigkeit sollen immer den Vorrang vor Meinungs-macht und Monopolen haben. Die Freiheit im Internet gilt als ein hohes Gut. Aller-dings sollen auch die Rechte der kreativen Urheber geschützt werden. Es darf sich keine Umsonst-Kultur etablieren.

2. Kulturpolitik als „Seele“ des Grünen Neuen Gesellschaftsvertrags

Grundlagen einer Grünen Kulturpolitik

Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich die finanzielle Situation in unserem Land in absehbarer Zeit verbessert. Daraus erwächst eine große Gefahr für die Kultur, die als sog. freiwillige Leistung einen besonders schweren Stand hat. Gerade in Zeiten der Krise muss sich Kulturpolitik daher offensiv legitimieren. Sie muss deutlich und all-gemein verständlich machen, welchen Wert Kunst und Kultur für jeden einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt darstellen. Allein auf den Erhalt des Bestehenden zu pochen reicht nicht, ebenso wenig reicht es, auf die Freiheit von Kunst und Kultur zu verweisen (die selbstverständlich unberührt bleiben muss).
Kulturpolitik muss eingebettet sein in einen Gesellschaftsentwurf. In den siebziger Jahren war es die SPD, die unter dem Motto „Kultur für alle“ Kulturpolitik mit dem Ziel Soziale Gerechtigkeit verband und ihr damit neue Bedeutung und Energie verlieh. Heute sind es die Grünen, die in richtungsloser Zeit für den Übergang in eine nach-haltige Lebensweise einen neuen Gesellschaftsentwurf vorgelegt haben. Grüner Kul-turpolitik wächst hiermit eine starke Rolle zu.

Das Bundestagswahlprogramm 2009

Das Bundestagswahlprogramm 2009 entwirft ein schlüssiges Bild einer zukunftsfähi-gen postindustriellen Gesellschaft. Schon die ersten Sätze der Präambel machen es klar: die Grünen wollen nicht wie die anderen Parteien hier und da an Symptomen herumdoktern, sondern die gegenwärtige Situation als Ganzes erfassen („Uns geht es ums Ganze“), und dies in einem weltweiten Zusammenhang.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Klimakrise und die Armutskrise werden zu-sammen gesehen als Zeichen dafür, dass „etwas nicht stimmt“, dass etwas „grund-sätzlich aus dem Lot geraten“ ist. „Wir können nicht länger so tun, als ob das alles nichts mit der Art und Weise, wie wir wirtschaften und leben, zu tun hat. … Wir stehen an einer Zeitenwende und können es uns nicht leisten, so weiterzumachen wie bisher“.
Die jetzige Lebensweise, wie sie im Programm gezeichnet ist, erscheint dabei kei-neswegs als erstrebenswert, sie hat den Menschen nicht das erhoffte Wohlergehen beschert. Die Menschen sind eingespannt in eine konforme, angepasste Gesell-schaft, die Shareholder-Value über Gemeinwohlinteressen setzt. Da ist der körperli-che Normierungswahn, der auch ein geistiger ist; da ist das Gefühl, abgezockt zu werden in einer unübersichtlichen Warenwelt. Die Gesellschaft ist gespalten durch Ungerechtigkeit und blockiert, es droht ein Krieg der Generationen, der Abbau der Bürgerrechte. Da ist das bedrückende Gefühl, auf Kosten der Armen in der Welt und der zukünftigen Generationen zu leben, im Grunde selbst schuld zu sein an dem, was unausweichlich scheint: Finanzkollaps, Klimawandel, Ressourcenkriege.
Demgegenüber wirkt das Bild, das der Grüne Neue Gesellschaftsvertrag für die Zu-kunft entwirft, wie eine Befreiung. Es ist gekennzeichnet durch Begriffe wie Würde, Selbstbestimmung, Gestaltungsfähigkeit, Eigeninitiative, Offenheit, Vielfalt, Gerech-tigkeit, Freiheit, Teilhabe, Mündigkeit, Kreativität, Solidarität, Lebensqualität.
Auffallend oft werden die Ziele des Grünen Neuen Gesellschaftsvertrags mit dem Begriff Kultur verbunden: Andere Unternehmenskultur, neue Kultur der Mobilität, Kul-tur der Anerkennung, Kultur der Unterstützung, Kultur der Altersarbeit, freie Internet-kultur gegen die Unkultur des Misstrauens und des Sanktionierens. Der Neue Grüne Gesellschaftsvertrag setzt einen kulturellen Wandel voraus. Er braucht eine „Seele“.
„Die Krise ist Ausdruck einer Denkweise, die kurzfristige Profitinteressen über alles andere gestellt hat.“, so das Programm. Die Weimarer Erklärung vom Januar 2010 spitzt dies noch zu: „Ein an den Mustern des Industriezeitalters ausgerichteter Kapi-talismus vernichtet seine eigenen Grundlagen“.
Um einen Ausweg aus der Krise zu finden, müssen wir also unsere Denkmuster ver-ändern, unsere Vorstellungen von dem, was wichtig ist für uns und die Gesellschaft, wie wir Glück und Ansehen definieren, wie wir leben wollen. Diese Veränderung muss die Gesellschaft in ihrer Breite erfassen. Der Weg aus der Krise kann nur ge-lingen, wenn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in eigener Verantwortung be-reit ist, diesen Weg mitzugehen und zu gestalten.
„Die Neuorientierung des Neuen Gesellschaftsvertrags ist auch eine kulturelle Auf-gabe“, heißt es im Kulturkapitel des Programms. Kulturpolitik ist als integrierter Be-standteil des Grünen Programms von großer Relevanz und ein wichtiges Instrument bei seiner Umsetzung.

Die Grüne Tradition des Umdenkens

Im Bundestagsprogramm wird die Krise der Gegenwart in Beziehung gesetzt zu der Umbruchssituation vor dreißig Jahren, als das atomare Gleichgewicht des Schre-ckens herrschte und der Club of Rome vor den „Grenzen des Wachstums“ warnte. Das war die Gründungszeit der Grünen. Die Grünen sind groß geworden als eine Partei, die schon immer den Mut hatte, in Krisenzeiten die Richtung neu zu bestim-men und den Wandel vorausschauend und mit unangepasstem Optimismus zu ge-stalten. „Umdenken“ stand damals auf den Plakaten. Auch heute sind die Grünen die einzige Partei, die sich den fundamentalen Fragen zu Klimawandel und Wachstums-falle stellt. Anders als andere Parteien erschöpft sie sich nicht in Angeboten und Ver-sprechungen an die Wählerinnen und Wähler, sondern sendet eine klare Botschaft aus. Sie ruft die Menschen dazu auf, an der Zeitenwende in einem gemeinsamen Projekt selber Verantwortung zu übernehmen. Also teilzunehmen an der vor uns lie-genden großen Gestaltungsaufgabe und die Verantwortung auch als Chance für die eigene Entfaltung zu erfahren.
Der Abschied von der alten Denkweise meint keine Verzichtsrhetorik, sondern eine Botschaft der Befreiung in bester Grüner Tradition. Viele Menschen wollen längst heraus aus dem Hamsterrad des ständigen Mehr.
Sie suchen ein erfülltes Leben ohne den ständigen Druck, sie wünschen Stabilität, Sicherheit vor Krisen, Reichtum in Beziehungen und Entfaltung ihrer Kreativität. Und auch das Bewusstsein, nicht länger auf Kosten anderer zu leben. Für dieses gute Leben der Zukunft die richtige Sprache und die überzeugenden Bilder zu finden ist die Aufgabe der nächsten Jahre.

Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit und die Wachstumsdebatte

Mit ihren Positionen bewegen sich die Grünen auf der Höhe der derzeit vehement geführten Debatte um Klimawandel und Wachstum. Im Scheitern der Klimakonferenz von Kopenhagen hat sich erneut und verstörend gezeigt, dass die Menschheit bis-lang nicht in der Lage ist, ihr Wissen adäquat in Handeln umzusetzen. Immer drän-gender stellt sich die Frage nach den Ursachen für diese „kollektive Schizophrenie“ (BUND). Die Kenntnis der Zahlen und Fakten allein genügt offenbar nicht, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Ein Schlüssel könnten die kulturellen Muster sein, also die Brille, durch die die In-dustriegesellschaften die Welt wahrzunehmen und zu deuten gewohnt sind. Wir kön-nen uns nichts anderes mehr vorstellen als immerwährendes Wachstum, als eine permanente Maximierung aller Lebensbereiche – mehr produzieren, mehr arbeiten, mehr kaufen, mehr haben, mehr erleben. Wachstum ist ein Mythos der Industriege-sellschaften.
Mit Sicherheit hat das Wachstum in der Vergangenheit vielen Menschen Wohlstand und Sicherheit gebracht. Heute aber wissen wir, dass immerwährendes Wachstum den Wohlstand der Menschen in der Zukunft bedroht. Der Mythos Wachstum – und damit auch die Kultur des Konsumismus – ist eine kulturelle Deutung, die wir auf ihre Tauglichkeit heute befragen müssen. Dieser Mythos hat eben jene Denkweise her-vorgebracht, „die kurzfristige Profitinteressen über alles andere gestellt hat“.
Die Balance zwischen Eigennutz und Gemeinsinn ist verloren gegangen. Wir lesen unser Glück und unseren Status an materiellen Dingen ab.
Das ständige Mehr ist der Inhalt der Botschaften, die uns von Kindheit an täglich und bis in den letzten Winkel unseres Lebens erreichen, insbesondere über die Medien und die Werbung. Aber auch die Politik fördert das Wachstum, das ihr die Steuerein-nahmen liefern soll, die sie braucht, um die Erwartungen der Menschen zu befriedigen.
Solange wir uns in diesem Hamsterrad befinden, sind wir blind gegenüber Alternativen zur Monokultur der Wachstumsgesellschaft. Wir erkennen weder die Notwendig-keit noch die Attraktivität anderer, nachhaltiger Lebensstile. Wie kann es uns gelin-gen, endlich die Brille zu wechseln? Die Vorstellungswelt des Industriezeitalters ab-zustreifen, die in der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen enden muss, und eine neue Vorstellungswelt zu entwickeln von dem guten Leben der Zukunft?
Immer deutlicher rückt in der öffentlichen Debatte die kulturelle Dimension der Nach-haltigkeit in den Blick. Weltweit ist eine Suchbewegung erkennbar nach dem guten gelingenden Leben. Und es ist kein Zufall, dass dabei Kunst und Kultur in den Fokus treten. Die Künste können uns zeigen, dass unsere gegenwärtige Sicht der Dinge nicht die einzig mögliche ist.
Das Aufbrechen alter Denkmuster ist das Kerngeschäft von Kunst und Kultur. Gute Kunst liefert keineswegs Utopien auf Bestellung. Aber sie eröffnet den Raum der Möglichkeiten, in dem das ganz Andere, das Unerwartete auftauchen kann, in dem auch das Ungewisse Platz hat. Hier kann man Bestehendes mit anderen Augen se-hen, mit der Lust und Faszination des Entdeckers; man kann Optionen imaginieren, im Bereich der Bilder vorwegnehmen und überprüfen. So werden im besten Fall die Bilder und Symbole unserer Kultur reflektiert und die Paradigmenwechsel vorbereitet, die wir brauchen.
Die Kulturpolitik arbeitet im Bereich der Bilder, der Werte und Symbole, sie wendet sich an die Köpfe und Herzen der Menschen. Kulturpolitik ist „Mentalitätspolitik“ und „die größte soft power überhaupt“ (Max Fuchs).
Sie ist auf neue Art herausgefordert, wenn es um die „Große Transformation“ geht: den Übergang vom industriellen ins postindustrielle Zeitalter. „Es gilt, das Zusam-menleben der Menschen auf ein neues, nachhaltiges Fundament zu gründen“ (Wei-marer Erklärung).

3. Kulturpolitik der Nachhaltigkeit als Alleinstellungsmerkmal Grüner Kulturpolitik

Eine Kulturpolitik der Nachhaltigkeit könnte das Alleinstellungsmerkmal Grüner Kulturpolitik werden. Sie ergibt sich aus dem Neuen Grünen Gesellschaftsvertrag, sie erwächst aus der Grünen Tradition der siebziger Jahre. Sie hat ein drängendes ge-sellschaftspolitisches Anliegen und legitimiert sich damit ganz selbstverständlich in Zeiten der Krise.
Wie kann eine solche Politik aussehen? Im Bildungsbereich gibt es schon einen entsprechenden Ansatz. Von 2005 bis 2014 läuft die UN-Weltdekade „Bildung für nach-haltige Entwicklung“ , die sich zur Aufgabe gesetzt hat, „den Menschen beizubringen, wie sie die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft zukunftsfähig ge-stalten kön-nen.“ Im Zentrum der Dekade steht das Konzept der Gestaltungskompetenz. Diese setzt sich aus einer ganzen Reihe von Fähigkeiten zusammen (weltoffen, voraus-schauend, interdisziplinär und gemeinsam mit anderen denken und handeln können, Gerechtigkeit einbeziehen, Empathie zeigen etc.).
Kulturpolitik arbeitet mit anderen Mitteln als die Bildung, sie setzt auf Kreativität, Emotion, Entgrenzung. Aber das Ziel ist das gleiche: im einzelnen Menschen und in der Gesellschaft die Kompetenzen zu stärken, die wir für den Übergang in die post-industrielle Gesellschaft brauchen. „Kultur“ kommt von „gestalten“. Kultur ist ein Sy-nonym für die Veränderbarkeit der Welt.

Kulturelle Kompetenzen für den Übergang in die postindustrielle Gesellschaft

Welche Kompetenzen brauchen wir für den kulturellen Wandel? Einen Hinweis gibt die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt der Unesco, die eine Parallele zieht zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution:
„Im Lauf von Zeit und Raum nimmt die Kultur verschiedene Formen an. Diese Vielfalt spiegelt sich wieder in der Einzigartigkeit und Vielfalt der Identitäten, die die Gruppen und Gesellschaften kennzeichnen, aus denen die Menschheit besteht. Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist die kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur. Aus dieser Sicht stellt sie das gemeinsame Erbe der Menschheit dar und sollte zum Nutzen gegen-wärtiger und künftiger Generationen anerkannt und bekräftigt werden.

„Nachhaltige“ kulturelle Kompetenzen könnten dementsprechend sein:

  • sich anderen Kulturen zu öffnen und die Vielfalt der Kulturen als eine Res-source für die Zukunft der Menschheit zu erkennen, zu schützen und zu nut-zen. Dies steigert die Überlebensfähigkeit (Resilienz) der Menschheit. Eine globale Monokultur im Sinne der westlichen Industrieländer ist keine Zukunfts-option. Vielleicht kennen andere Kulturen bessere Wege, mit Umwelt und Ressourcen umzugehen.
  • die eigene Kultur als Teil der weltweiten Vielfalt und gleichzeitig als besonde-ren und unverwechselbaren Ort zu erleben, an dem man sich verwurzelt und zu Hause fühlt. Dies hält die Gesellschaft in Städten und Regionen zusammen.
  • den Umgang mit der Natur auch als eine kulturelle Aufgabe wahrzunehmen und dabei überkommene Denkmuster (z. B. das Recht zur Ausbeutung der Natur) zu überprüfen. Das bedeutet, sich auf das Unbekannte einzulassen, das Unerwartete aufzunehmen, das Ungewisse auszuhalten.
  • Zufriedenheit, Glück, Erfüllung nicht nur im Materiellen zu suchen, sondern in den Möglichkeiten zum eigenen kreativen Tun und der Teilhabe am kulturellen Leben, auch in Gemeinschaft mit anderen. Dabei ist die Erkenntnis hilfreich, dass die Werte der Industriegesellschaft nicht „naturgegeben“, sondern „gemacht“ sind (Kultur des Konsumismus).
  • die Welt als gestaltbar wahrzunehmen, vernetzt zu denken und zu fühlen und die Folgen des eigenen Tuns auf andere (in der Nähe oder weltweit oder auch in der Zukunft) einzubeziehen. Der Zustand hier und jetzt ist nicht der einzig mögliche.
  • den Weg in die Zukunft in diesem Sinne als einen weltweiten Suchprozess zu begreifen, evolutionäre Kompetenz zu entwickeln und selbst Verantwortung für die Zukunft des Planeten zu übernehmen. Dies geschieht durchaus im ei-genen Interesse. Kooperative Egoisten finden eine neue Balance zwischen Eigeninteresse und Gemeininteresse. Schließlich sitzen wir alle in einem Boot. Diese Erkenntnis kann helfen, ein Wir-Gefühl in der Gemeinschaft zu entwickeln bis hin zum globalen Wir der Menschheit insgesamt.

Handlungsfelder einer Grünen Kulturpolitik der Nachhaltigkeit

Grüne Kulturpolitik setzt auf Freiheit, Kreativität, Vielfalt und Selbstbestimmung und ist sehr gut gerüstet, mitzuhelfen, „nachhaltige“ Kompetenzen zu wecken und zu för-dern. Es sind dies auch die Kompetenzen, die zur Umsetzung des Neuen Grünen Gesellschaftsvertrags gebraucht werden. Als Scharnier zwischen Kunst und Kultur und Gesellschaft hat Grüne Kulturpolitik hier vielfältige Möglichkeiten der Steuerung.

Freiräume für Kultur als Zukunftslabor

Kulturpolitik schafft Kunst und Kultur den Freiraum, den sie brauchen, um zu zeigen, dass unsere Sicht der Dinge nicht die einzig mögliche ist. Sie führt Kultur und Politik zusammen in der Suche nach Bildern für die Erfordernisse der Zeitenwende. Sie kann auch Anregungen an Kulturschaffende geben, sich mit Zukunftsfragen ausei-nander zu setzen (vgl. die Projekte „Überlebenskunst“ der Bundeskulturstiftung; „Zur Nachahmung empfohlen“ von Adrienne Goehler; „Kultur und Klimawandel“ als the-matischer Schwerpunkt des Goethe-Instituts).

Kulturelle Bildung für alle

Kulturelle Bildung trägt entscheidend für die Entwicklung „nachhaltiger“ Kompeten-zen bei. Kulturelle Bildung muss endlich in der Breite angeboten werden. Alle Kinder sollen erreicht werden, vom Kindergarten an. Kulturelle Bildung fördert die interkultu-relle Kompetenz und kann auch präventiv wirken gegen Rechtsextremismus und Gewalt.
Die Landesregierungen sind gefordert, Modelle und Finanzierungsmöglichkeiten für Kulturelle Bildung in der Breite zu finden. Anzustreben ist eine Vernetzung mit der UN-Dekade BNE. Überhaupt ist Vernetzung das Gebot der Stunde – der kulturellen Einrichtungen untereinander und mit freien Trägern sowie der Bereiche Bildung, Kul-tur und Soziales.
Kreativitätspolitik für eine zukunftsfähige Entwicklung.
Kreativität in der Gesellschaft muss wachsen, gerade in Zeiten der Krise. Wir brau-chen unser gesamtes kreatives Potential, in der Kunst, der Technik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, um den Übergang aus dem industriellen ins postindustrielle Zeital-ter zu finden und zu gestalten. Kreativitätspolitik als strategische Querschnittsaufga-be verbindet die evolutionäre Kompetenz des Einzelnen und der Gesellschaft mit neuen wirtschaftlichen Chancen. Kontraproduktiv wäre es allerdings, die Kreativität den bestehenden wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen. Grüne Kreativitätspolitik bezieht die Vorstellungen der Bewohnerschaft ebenso wie der Kreativen in ihre Stra-tegien ein und behält die „nachhaltigen“ Kompetenzen im Blick.
Vielfalt der Kulturen als Ressource.
Die Pflege der Vielfalt erschöpft sich nicht im jährlichen Karneval der Welten, son-dern sucht die Kompetenzen der Zugewanderten als Ressource zu schätzen und zu nutzen. Die Kulturen können voneinander lernen und gemeinsam neue Wege finden.
Während sich die auswärtige Kulturpolitik immer mehr kommunalisiert, verschmelzen in den Städten internationale und interne Kulturarbeit und bauen mit an einem welt-weiten Wir-Gefühl. Umso wichtiger ist es, diese Arbeit in der notwendigen Weise zu unterstützen.

Kultur/Soziokultur als Entwicklungsinstrument

Kulturpolitik ist ein wichtiger Faktor in Nachhaltigkeitsprozessen auf allen politischen Ebenen. Um „nachhaltige“ Kompetenzen in der Breite zu fördern, sollte Kul-tur/Soziokultur in größere Strategien eingebaut werden, insbesondere der Stadtent-wicklung.
Städtebauförderprogramme von Bund und Ländern sollen immer die Kultur mitden-ken – den öffentlichen Raum stärken, Orte der Begegnung der Generationen und Kulturen bieten, dazu Angebote der gemeinsamen kreativen Betätigung und gemein-samen Erlebens, Möglichkeiten des Erholens und der Entspannung in der Nachbar-schaft, ein Gefühl für den Ort entwickeln, in dem man lebt. In diese integrierten Stra-tegien fließen die Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger mit ein.
Die Stadt oder der Stadtteil bietet Identifikation und Heimat für alle Lebensstile. So tun sich Alternativen zum Konsumismus auf. Durch eine Stärkung der Nachfrageseite (audience development) lassen sich mehr Menschen für kulturelle Aktivitäten gewin-nen. Indem die Kulturvermittlung mehr Gewicht erhält, erweitert sich auch der „Markt“ für die Kulturschaffenden. Insgesamt geht die Entwicklung vom Projekt zum Prozess, zu Vernetzung und Verstetigung.
Um die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit auch auf Bundesebene abzubilden, sollte Kulturpolitik als Handlungsfeld mit entsprechenden Indikatoren in die Nachhal-tigkeitsstrategie der Bundesregierung aufgenommen werden.

Verhinderung von Monokultur

Die Förderung der global agierenden Kulturindustrie ist nicht Aufgabe der öffentli-chen Hand. Es geht in erster Linie um Erhalt und Förderung von diversity – das zu fördern, was sich nicht alleine nicht auf dem Markt behaupten kann.
So muss es etwa in der Frage der Digitalisierung des Kinos darum gehen, die kleinen Kinos gegen die großen Unternehmen zu stärken. Auch in andern Fragen der Neuen Medien – Urheberrecht, Freies Internet etc. – ist die Überlegung hilfreich, inwieweit Entscheidungen dem „Guten Leben“ dienlich sind oder eher einer Machterweiterung der Global Players.

Kulturelle Institutionen als „Quellen des Austauschs, der Erneuerung und der Kreati-vität“ (Unesco-Erklärung).

Wenn sich Bibliotheken, Theater, Archive und Museen als Orte der Begegnung ver-stehen und sich zur Gesellschaft hin öffnen, tragen sie Unverzichtbares zu einer Kul-turpolitik der Nachhaltigkeit bei.
Die Theater stellen Menschheitserfahrung in künstlerische Form gegossen zur Ver-fügung und setzen sie immer wieder neu mit Gegenwart und Zukunft in Beziehung. Die Museen wirken nicht als Hort der Leitkultur und Exklusion; im Gegenteil. Indem sie das kulturelle Erbe in seiner jeweils unverwechselbaren Form bewahren, sind sie Lern-orte der Diversität. Gegen den Prozess der globalen Nivellierung schärfen sie den Sinn für das Echte, das Authentische, für Zugehörigkeit und Identität.
Die Bibliotheken ermöglichen allen die Teilhabe am Wissen und damit an der Such-bewegung Richtung Zukunft. Sie geben Raum für die Begegnung zwischen Genera-tionen und Kulturen. Es ist von großer Bedeutung, die öffentlichen Einrichtungen als Gemeingut zu erhalten und weiterzuentwickeln. Sie sind zuverlässige Stütze kulturel-ler Netzwerke und unterschiedlichster Formen von bürgerschaftlichem Engagement.

Freie Medien und Kritik der Wachstumskultur

Medien und Werbung generieren und verstärken in unseren Köpfen tagtäglich und von Kindheit an die Bilder und Botschaften der Wachstumskultur. Über Werbung und Medien werden soziale Normen verändert oder sogar geschaffen. Der Bürger wird zum Verbraucher degradiert. Während wir uns frei fühlen, werden wir gelenkt.
Hier tut sich eine große Aufgabe für eine Grüne Kulturpolitik der Nachhaltigkeit auf. „Es wird … eine der Kernfragen sowohl der gesellschaftlichen wie auch der individu-ellen Zukunft sein, wer die Bilder einer zukünftigen Welt entwirft: Der kommerzielle oder der öffentliche Sektor.“ (Armin Klein) In diesem Sinne brau-chen wir auch eine „Ethik“ für das Internet, die Einzelinteressen und Gemeininteres-sen fair gegeneinander abwägt.

4. Kultur als Wachstumsbereich

Die Weimarer Erklärung fordert einen kritischen Wachstumsdiskurs und „eine Politik, die klar sagt, welche Bereiche wachsen und welche besser schrumpfen sollen“.
Der langjährige Wachstumskritiker Kurt Biedenkopf erklärt: „Wachsen muss nur noch die Intelligenz.“ Intelligenz beinhaltet mehr als Wissensspeicherung und rein kogniti-ve Fähigkeiten. Intelligenz beinhaltet die Fähigkeit zum vernetzten, kreativen Denken und zu Empathie. Von einem kulturellen Paradigmenwechsel hängt alles ab.
Deshalb muss der kulturelle Bereich als Aufgabe der Kulturpolitik ein Wachstumsbe-reich bleiben. Wachsen muss das Verantwortungsgefühl füreinander und für nachfol-gende Generationen, wachsen muss das Verständnis für Gerechtigkeit und für andere Kulturen.
Kultur ist eine wesentliche Komponente für das Gute Leben der Zukunft. Sie definiert Wohlstand und Zufriedenheit neu. Sie füllt die wachsende Freizeit mit Sinn, sie hält die vielfältige Gesellschaft zusammen, sie verbindet die Generationen, sie gibt Ver-wurzelung in einer globalisierten Welt. Sie gibt dem neuen guten Leben seine Qualität.

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